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Wolfgang Streeck zu deutscher Außenpolitik vor der russischen Invasion - ein Interview


Von Michael Hesse

Aktualisiert: 18.10.21 - 16:00



Der Soziologe Wolfgang Streeck über die Entstehung einer neuen, bipolaren Weltordnung und die Rolle Europas und Deutschlands darin


Herr Streeck, in Ihrem Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie“ befassen Sie sich mit Imperien. Erleben wir gerade den Abgesang einer Supermacht, den der USA?


Wir sind Zeugen des Endes des amerikanischen Imperiums und des Aufstiegs Chinas, der Zeit einer neuen Bipolarität. Dieses historische Ereignis ist für die zukünftige Strukturierung des Staatensystems zentral. Nicht nur die letzten Ereignisse in Afghanistan zeigen den Machtverlust der USA. Ein 20-jähriger Krieg, den sie nicht gewinnen konnten. Die Amerikaner haben sich nach 1945 eigentlich immer so verstanden, dass es keinen Krieg auf der Welt geben darf, den sie verlieren. Dafür haben sie in Vietnam zwischen drei und sechs Millionen Menschen sterben lassen. Keiner kann das mehr erklären, und verloren haben sie trotzdem.


Und sich in das nächste Desaster begeben


Die Interventionen im Nahen und Mittleren Osten vom Irak bis Libyen haben ein einziges Chaos hinterlassen. Seit der New World Order des George Herbert Walker Bush nach dem Ende des Kommunismus haben die USA 30 Jahre lang permanent Krieg geführt. Wobei ja eigentlich die vorherrschende Vorstellung war, dass man in eine Phase des Endes der Geschichte eingetreten war. Stattdessen gab es Dauerkrieg. Und Dauerniederlagen. China hat keinen einzigen Krieg in dieser Zeit geführt. Im Gegenteil sind sie bis 1945 immer wieder angegriffen worden, vom Opiumkrieg bis zur japanischen Invasion in der Mandschurei, was tiefe Spuren im kulturellen und politischen Gedächtnis des Landes hinterlassen hat. Anders als die USA haben die Chinesen übrigens bis heute nie das Bedürfnis gehabt, andere Länder notfalls mit Gewalt dazu zu bringen, so zu leben wie sie.


Zurzeit blickt die Weltöffentlichkeit gebannt darauf, wie sich ein neuer Kalter Krieg zwischen den USA und China anbahnt. Warum eigentlich?


Die Frage ist, was ist China? Ist es ein kapitalistisches Land mit einer kommunistischen Hülle oder ein kommunistisches Land mit einem kapitalistischen Kern? Ein Nationalstaat, der seine Wirtschaft regiert, oder eine tendenziell grenzüberschreitende Wirtschaft, die ihren Staat als Vehikel für ihre Expansion braucht. Es könnte sein, dass die politische Führung sich gegenüber den Großunternehmen behauptet, anders vielleicht als in den USA, wo der Staat möglicherweise eher das Instrument des finanzialisierten Kapitalismus ist. Das müsste zu Unvereinbarkeiten mit den Vereinigten Staaten führen, die auf freie globale Märkte bestehen, die Chinesen dagegen auf politisch kontrollierte außenwirtschaftliche Beziehungen. Welche Rolle spielt dann der kapitalistische Kern? Kapitalismus ist auf Expansion angewiesen; er kann nicht nicht wachsen. Ein Aspekt davon ist, dass die chinesische Wirtschaft Transportsysteme braucht, bis hin nach Athen und Duisburg. Im Vergleich zu den Amerikanern ist die Neue Seidenstraße noch eine Kleinigkeit; denken Sie an den Suez-Kanal, den Panama-Kanal, wo die USA Soldaten stationiert haben. Andererseits wird die Seidenstraße gegen Terrorismus und nationale Umstürze verwundbar sein. Daher werden die Chinesen ihre logistischen Strukturen – ihre „Handelswege“ – schützen wollen und müssen. Dann folgt die staatliche Gewalt dem wirtschaftlichen Expansionspfad, wie bei den USA. Das könnte gefährlich werden.


Was zeichnet sich da ab?

Amerikanisches Militär ist in rund der Hälfte der Staaten der Welt in irgendeiner Form präsent, und der Rüstungsetat der USA liegt bei rund 40 Prozent der Weltmilitärausgaben. Im Vergleich sind die Chinesen noch klein, und winzig, was die Dislozierung ihrer Streitkräfte angeht. Aber sie arbeiten daran aufzuholen. Sie müssen es irgendwie auch, wenn sie sich auf die neue Bipolarität einrichten, das heißt mehr sein wollen als Lieferanten billiger Konsumgüter für ein sich immer weiter verschuldendes US-Amerika. Hier beginnen Fragen wie die nach der Organisation einer Weltwirtschaft mit potentiell zwei Leitwährungen: Dollar und Renminbi-Yuan. Selbst unsere heutigen Politiker, die nur ungern über ernste Themen reden, fragen sich, wie Europa da hineinpassen soll, in eine Welt, die nicht mehr die New World Order von George Bush dem Ersten ist.

Und passt Europa da irgendwie rein?

Es gibt hier zwei verschiedene Vorstellungen. Die eine Seite, eher die deutsche, sieht Europa als Verbündeten der USA im Kampf gegen Russland und China, bis an die Zähne bewaffnet als eine Art Sub-Imperium auf dem westlichen Pol der bipolaren Welt, bereit für einen neuartigen „Clash of Civilisations“. In Frankreich sieht man das anders: Europa als dritte Kraft, die eigene Interessen verfolgt in einer letztlich tri- statt bipolaren Welt, jedenfalls nicht als Unterabteilung eines von den USA geführten „Westens“. Ich denke, dass sich die beiden, Deutschland und Frankreich, auf keine dieser Optionen werden einigen können, aus verschiedenen Gründen. Daraus schließe ich unter anderem, dass sich die Lockerungstendenzen im europäischen Integrationsprozess durchsetzen werden, und wenn das so ist, könnte vielleicht etwas anderes, durchaus Interessantes entstehen. Das Buch: Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Suhrkamp, Berlin 2021. 538 S., 28 Euro. Ist das nicht gefährlich?

Es gibt Bestrebungen, eine europäische Armee als Hebel zu einer stärkeren politischen Integration Europas zu nutzen. Neuerdings träumt man von einer Interventionsarmee, die auch ohne die USA deren gute Werke in Afghanistan hätte fortsetzen sollen und können. Oder man schickt eine Fregatte mit dem schönen Namen Bayern ins Südchinesische Meer, um dem Politbüro schlaflose Nächte zu bereiten. Das sind Weltmachtfantasien der gefährlicheren Art. Allerdings muss man sich darüber nicht allzu viele Sorgen machen. Deutschland, auf das es in Europa entscheidend ankommt, wird sich davor hüten, sich zwischen den USA und Frankreich zu entscheiden; wie man das macht, hat Merkel in ihrer Zeit brillant vorgeführt. Dies eröffnet für Europa die Chance eines nicht-imperialen dritten Wegs, als Folge des doppelten Scheiterns der USA als der einen Weltmacht und Europas als bewaffneter Superstaat mit zwei miteinander unvereinbaren Integrationsideen. Europa ist als Imperium deshalb zum Scheitern verurteilt, weil es zwei potenzielle Hegemonialstaaten hat, nicht nur einen: Deutschland und Frankreich, die sich aber in entscheidenden Punkten nicht einigen können. Ein von Deutschland beherrschtes Europa ist aus historischen Gründen undenkbar, ein von Frankreich beherrschtes wäre für die führende europäische Wirtschaftsmacht, Deutschland, unakzeptabel.

Läuft das in Europa auf Kleinstaaterei hinaus?

Na ja, Großstaaterei war historisch gefährlicher, das könnte er wissen. Im Übrigen gibt es in dem sich globalisierenden Weltsystem nirgendwo Bestrebungen souveräner Staaten, sich mit anderen souveränen Staaten zusammenzuschließen. Die Zahl der souveränen Staaten ist seit 1950 von 91 auf 202 im Jahr 2010 gewachsen. Kleinstaaterei, wohin man blickt: Die 202 Staaten von 2010 hatten im Durchschnitt eine Bevölkerung von 34 Millionen, bei einem Median von 7,1 Millionen. Warum – wo doch jeder gute europäische Integrationist sagen würde, je größer, desto besser. Im Gegenteil beobachtet man, dass es in großen und mittelgroßen Staaten zunehmend Dezentralisierungs- und Sezessionstendenzen gibt. Das gilt auch für Staatenblöcke wie die EU; siehe Brexit und, vielleicht, Polexit. In dem Buch lege ich dar, dass es gute Gründe gibt, gerade unter Bedingungen globaler wirtschaftlicher Integration, die jeweils eigene nationale oder auch regionale Handlungsfähigkeit zu verteidigen.

Der Historiker Fritz Stern warnte vor dem Zerfall der EU. Wenn Europa scheitert, werden sich die Deutschen dann wieder mehr Richtung Russland bewegen?

Ein Zerfall der EU zeichnet sich in der Tat ab, aber als Folge von zu viel, nicht von zu wenig Integration. Weniger tiefe Eingriffe in die Souveränität der Mitgliedstaaten könnten den Zerfall aufhalten; als regionales System miteinander gleichberechtigt und freiwillig kooperierender Nationalstaaten („Kleinstaaterei“) wäre die EU noch zu retten. Was Deutschland angeht, so ist es eingeklemmt zwischen vier Atommächten: Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA, die auf deutschem Boden eine unbekannte Anzahl von Atomsprengköpfen mit den zugehörigen Trägersystemen deponiert haben. Solange Deutschland die amerikanische Strategie unterstützt, in Russland auf einen Regimewechsel zu drängen, ist es als Nicht-atommacht auf amerikanischen Schutz angewiesen, zumal Frankreich seine Nuklearwaffen nur zu seiner eigenen Verteidigung einsetzen kann und wird. Die deutsche öffentliche Diskussion zu diesem Thema ist sozusagen nuklear vermint: Jeder, der versucht, über einen friedlichen Ausgleich zwischen Europa und Russland nachzudenken, wird als „Putinversteher“ wahlweise in die rechte oder linke Ecke versetzt – als ob es in der Außenpolitik nicht gerade darauf ankäme, die Interessen anderer Länder zu verstehen, so dass man mit ihnen einen Ausgleich finden kann.

Es gibt durchaus Gründe, Russland kritisch gegenüberzustehen.

Weiß Gott, ja, genau wie im Fall Chinas. Allerdings gibt es durchaus auch Gründe, den USA „kritisch gegenüberzustehen“. Unabhängig davon sollte man fragen dürfen, ob man eine Außenpolitik mitbetreiben will, die im Ergebnis auf nichts Geringeres als darauf zielt, die Regierung einer benachbarten Atommacht auszuwechseln. Ich kann in diesem Zusammenhang auch nicht verstehen, warum man einerseits Fregatten nach China schickt und andererseits mit erheblichen öffentlichen Mitteln eine Expedition deutscher Winterspitzensportler zu olympischen Winterspielen nach Peking finanziert, während die chinesische Regierung ihre uighurischen Umerziehungslager weiterbetreibt. Beides könnte man durchaus lassen.

Wie fällt Ihre Bilanz der Ära Merkel aus?

Ich habe in meinem Buch darauf hingewiesen, dass in den 90er Jahren die Fähigkeit von Volksparteien der rechten Mitte verloren gegangen war, ihre Seite des politischen Spektrums mit einer Synthese aus paternalistischem Kapitalismus, patriarchalischem Familialismus und Antikommunismus zusammenzuhalten: der Kapitalismus war neoliberal geworden, die patriarchalische Familienordnung war zerbrochen, und der Kommunismus war verschwunden. Mitte-Rechts-Parteien verloren überall an Stimmen vor allem bei Frauen und Jüngeren, und ihre traditionellen politischen Eliten und Ideologien lösten sich auf. Angela Merkel war die ideale Antwort auf diese Situation: sie gehörte zu keiner der alten Cliquen der westdeutschen CDU/CSU, sie war protestantisch und eine im DDR-Feminismus aufgewachsene Frau usw. Für die CDU/CSU kam sie wie von oben eingeflogen, unverzichtbar und schreckenerregend zugleich. Das hatte zur Folge, dass sie einen neuen Politikstil einführen konnte, völlig unideologisch, allein auf Machterhalt gerichtet, an der neuen Mittelschicht orientiert, situationistisch: erst neoliberal, dann sozialdemokratisch; erst für Atomenergie, dann gegen Atomenergie; erst für Grenzöffnung, dann der milliardenschwere „Deal“ mit Erdogan, je nach Stimmungslage. Früher, als Politik noch ideologisch war, wäre diese Sprunghaftigkeit undenkbar gewesen; Wähler und Parteimitglieder hätten nach so etwas wie Konsistenz verlangt. Ein Ergebnis von 16 Jahren Merkel ist allerdings, dass ihre Partei, die CDU, nun endgültig programmatisch ausgelaugt ist, ohne jede intellektuelle oder politische Substanz. Merkel war das Einzige, was der CDU nach dem Ende der alt-westdeutschen Politik noch geblieben war; damit ist nun Schluss: Flasche leer.

Interview: Michael Hesse

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