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Die europäischen Länder – und allen voran die Schweiz – sollten versuchen, die Wogen zu glätten

Aktualisiert: 20. Apr. 2022


Dieses Interview hat meinen Eindruck vom Verlauf des Krieges verändert. Laut der hiesigen Nachrichten war ich unter dem Eindruck, dass die russischen Truppen vor allem im Raum Kiew und Charkow kämpfen. Wenn aber der Hauptteil der ukrainischen Armee in Kramatorsk, d.h. im russisch-sprachigen Teil der Ukraine stand, wie auch in den USA berichtet, und dort von den russischen Truppen eingekesselt ist, finden die Kämpfe wohl vor allem im Donbass und angrenzenden Gebieten statt. Warum ändert das meine Sicht auf den Krieg zum Teil? Weil die Anwesenheit eines überwiegenden Teils der ukrainischen Armee im Osten dafür spricht, dass die Regierung in Kiew einen Angriff auf den Donbass vorbereitet hat. Rechtfertigt das die russische Invasion? Aus meiner Sicht, nein. Russland hätte den ukrainischen Angriff abwarten und dann Deutschland und Frankreich als Ko-Garanten des Minsker II Abkommens und den UN Sicherheitsrat zum Handeln auffordern sollen. Zweifel an deren Handlungsbereitschaft sind nach den Jahren der mangelnden Aktivitäten zur Vertragseinhaltung allerdings angebracht.

«Die europäischen Länder – und allen voran die Schweiz – sollten versuchen, die Wogen zu glätten, anstatt Öl ins Feuer zu giessen» Interview mit Jacques Baud*

Quelle: Zeitgeschehen im Fokus


Herr Baud, in unserem ersten Interview (Nr. 4/5) haben Sie erwähnt, dass Sie unter anderem im Auftrag der Nato in der Ukraine tätig waren. Was war Ihre Aufgabe dort?

Jacques Baud


2014 war ich bei der Nato für die Bekämpfung der Verbreitung von Kleinwaffen zuständig, und wir versuchten, russische Waffenlieferungen an die Rebellen in der Ostukraine aufzuspüren, um zu sehen, ob Moskau beteiligt ist.

Konnten Sie das herausfinden?

Die Informationen, die wir damals erhielten, stammten fast ausschliesslich vom polnischen Geheimdienst und passten nicht zu den Informationen der OSZE. Trotz ziemlich grober Behauptungen gab es keine Lieferungen von Waffen und militärischem Material aus Russland. Die Rebellen wurden durch russischsprachige Soldaten ukrainischer Einheiten, die auf die Seite der Rebellen übergelaufen waren, bewaffnet. Im Zuge der ukrainischen Niederlagen wurden die Reihen der Autonomisten durch vollzählige Panzer-, Artillerie- oder Flugabwehrbataillone vergrössert.

Nach unserem letzten Interview haben wir sehr viele positive Leserzuschriften bekommen. Die Menschen suchen nach objektiven Informationen …

ja, ich glaube, es ist wichtig zu sagen, dass es nicht darum gehen kann, die eine Seite zu belohnen und die andere zu bestrafen. Es geht darum, Informationen – wie zum Beispiel von den OSZE-Berichten –, die von den öffentlichen Medien vernachlässigt werden, in unsere Beurteilung der Lage zu integrieren. Man kann einen Konflikt nicht nur von einer Seite aus betrachten. Man muss immer beide Seiten anschauen. Wir sind im aktuellen Konflikt so gerichtet, dass wir ihn nur aus der Sicht der Ukraine wahrnehmen. Das ganze Zahlenmaterial in unseren Medien kommt nur von der ukrainischen Regierung. Die Berichterstattung betrifft nur die Seite der Ukrainer. Wir haben die Bilder und Emotionen nur von dieser Seite. Aber es gibt eine andere Seite, und es gibt auch eine Logik auf der anderen Seite. Da der Westen den Krieg nur aus einer Seite beurteilt, hat er die Ukraine nur schlecht beraten können. Paradoxerweise ist das vermutlich der Hauptgrund der ukrainischen Katastrophe. Selenskij hat bei CNN selbst gesagt, dass er von den westlichen Staaten betrogen wurde. Im Grunde genommen ist das Hauptziel des Westens, Putin zu bekämpfen und nicht der Ukraine zu helfen. Das sind zwei verschiedene Sachen.

Könnte das Betrachten der russischen Seite nicht auch einseitig wirken?

Ja, für manche vielleicht schon. Aber das hängt damit zusammen, dass wir in unseren Medien ein bestimmtes Bild über Putin und die Russen vermittelt bekommen. Wir wissen zum Beispiel, dass im Krieg keine Partei objektiv kommuniziert. Trotzdem übernehmen unsere Medien die von der ukrainischen Regierung veröffentlichten Zahlen über die gefallenen russischen Soldaten, statt offizielle russische Zahlen. Wir haben keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht. Es geht darum, Russland schlecht darzustellen. Wenn man nur eine Seite kennt, läuft man Gefahr, die Dinge völlig falsch einzuschätzen. Man schafft heutzutage eine virtuelle Realität. Man hat eine Legende kreiert, und alles basiert darauf. Das ist extrem gefährlich.

Wo sehen Sie die Gefahren?

Zum Beispiel junge europäische Freiwillige, die in die Ukraine gegangen sind, um die Russen zu bekämpfen, sind traumatisiert zurückgekommen. Sie wurden durch die westliche Rhetorik, die die Russen in Panik und auf der Flucht darstellte, in die Irre geführt. Doch die Realität ist härter. Ein weiteres Beispiel: Seit einigen Wochen sind viele Dokumente erschienen, die die Grausamkeiten der freiwilligen ukrainischen Milizen zeigen. Gleichzeitig will die Schweizer Bundesanwaltschaft eine Task-Force einsetzen, um russische Kriegsverbrechen zu verfolgen. Warum soll eine geplante Task-Force nicht alle Kriegsverbrechen untersuchen, sondern nur die russischen? Das ist fast eine Einladung für die ukrainischen Milizen zu mehr Grausamkeiten. Auf einer eher strategischen Ebene fürchte ich, dass derzeit jeder Vorfall direkt Russland angelastet wird. Die Bedingungen für einen Vorfall unter falscher Flagge sind heute gegeben.

Was veranlasst Sie zu dieser Einschätzung?

Die Stimmung ist so antirussisch, dass es unmöglich ist, eine andere Einstellung zu vertreten, als gegen Russland zu sein. Niemand erwähnt die Möglichkeit, mit Russland zu verhandeln. Der Dialog wird mit allen Mitteln verhindert. Man favorisiert das Waffenliefern, man ist sich im Westen darin einig. Zum Beispiel beschloss Ende Februar, wenige Stunden, nachdem Selenskij die Idee geäussert hatte, einen Verhandlungsprozess mit Russland zu beginnen, die Europäische Union ein Budget von fast einer halben Milliarde Euro, um Waffen an die Ukraine zu liefern. Aber von den westlichen Staaten kämpft niemand. Man ermutigt die Ukrainer, ihr Leben zu riskieren.

«Der Grossteil der ukrainischen Streitkräfte ist im Kessel von Kramatorsk umkreist»

Hat sich in den letzten Wochen die Lage geändert? Ist das Vorgehen der Russen überhaupt erfolgreich?

Ja, man kann sagen, dass Russland seine Ziele in der Ukraine fast erreicht hat. Es ist klar, dass es die Ukraine nicht in Besitz nehmen will, aber sein Ziel ist es, die Bedrohung für die Donbas-Republiken zu neutralisieren. Derzeit ist der Grossteil der ukrainischen Streitkräfte im Kessel von Kramatorsk umkreist, wo sie für eine Offensive gegen den Donbas im Februar zusammengezogen worden waren. Sie werden von russischen Truppen, die aus dem Nordosten und Süden über die Krim kommen, und von Truppen aus den Republiken Donezk und Lugansk aus dem Osten in die Zange genommen. Ist denn die russische Armee nicht auch in Mariupol?

Nicht wirklich. Die Einnahme von Mariupol erfolgte durch Truppen aus den Republiken Donezk und Lugansk sowie einer Abteilung der tschetschenischen Nationalgarde. Die russischen Truppen werden nicht direkt in den Städten eingesetzt, sondern dienen vielmehr der mobilen Kampfführung und der Einkesselung der ukrainischen Streitkräfte.

Wie ist das bei der Ukraine?

Auf ukrainischer Seite sind es die nationalistischen Freiwilligenmilizen ASOV, die die Städte verteidigen. Die Bevölkerung von ­Mariupol ist hauptsächlich russischsprachig mit einer starken griechischstämmigen Minderheit, die Russland eher positiv gegenübersteht. Das bedeutet, dass die Angreifer den Einwohnern kulturell nahestehen, während die Verteidiger weit von ihnen entfernt sind.

Wer führt die Freiwilligenmilizen?

Die Freiwilligeneinheiten sind in die ukrainische Nationalgarde integriert und sind nicht für den Kampf im offenen Gelände ausgerüstet. Sie verfügen weder über schwere Panzer noch über Artillerie. Es handelt sich dabei lediglich um Infanterie, die mit leicht gepanzerten Fahrzeugen ausgerüstet und eher für den Ortskampf geeignet ist. Deshalb kämpft sie nur innerhalb der Städte. Im Grunde genommen ist es auf beiden Seiten ähnlich. Die Armeen führen den beweglichen Kampf, die Freiwilligenmilizen führen den Ortskampf. Was bedeutet das für das Gesamtbild?

Zunächst einmal zeigen die Karten, die in unseren Medien präsentiert werden, kaum eine Veränderung zwischen Ende Februar und heute. Zweitens zeigen sie nicht die Einkesselung des Grossteils der ukrainischen Streitkräfte im Sektor Kramatorsk. Daher haben wir den Eindruck, dass die russischen Koalitionskräfte nicht vorankommen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die russische Koalition, bestehend aus den beiden Republiken zusammen mit Russland, kämpft und kontrolliert fast den ganzen russischsprachigen Teil der Ukraine. Wenn man einen Sprachatlas nimmt, dann ist die Ukraine entlang der Sprachgrenzen von Russland kontrolliert. Vor einigen Tagen behauptete eine «Expertin» im französischen Fernsehen, dass die russische Koalition nur ein Gebiet von der Grösse der Schweiz oder der Niederlande eingenommen habe. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Gebiet, das so gross ist wie Grossbritannien.

In unseren Medien heisst es immer wieder, der Vormarsch sei gestoppt. Die Russen kämen nicht weiter. Die Armeeführung habe versagt.

Nein, das stimmt nicht. Es scheint klar zu sein, dass die Russen sich nicht im ukrainischsprachigen Teil des Landes engagieren wollen. Die Ziele, die sie sich gesetzt haben, erfordern dies auch nicht: «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung». Das erste Ziel wird erreicht, wenn die ukrainischen Streitkräfte im Kessel von Kramatorsk neutralisiert oder entwaffnet worden sind. Das zweite Ziel wird erreicht, wenn die Freiwilligenbataillone in den grossen Städten wie Mariupol oder Charkow neutralisiert worden sind.

Wo sind wir geografisch genau in der Ukraine?

Der Vorstoss der russischen Koalition deckt ungefähr das russischsprachige Gebiet des Landes ab. Kiew ist fast eingekesselt, aber es war nur ein Nebenvorstoss, wahrscheinlich um die ukrainische Verteidigung im Westen des Landes zu binden und die ukrainische Regierung an den Verhandlungstisch zu drängen. Der Grossteil der ukrainischen Armee befindet sich im Kramatorsk-Kessel, der sich von Slowiansk bis Donezk erstreckt. Wir sind weit entfernt von den Informationen, die wir im Fernsehen sehen.

Warum sind wir nicht richtig informiert?

Es wird versucht, die Vorstellung zu verbreiten, dass die Russen ihre Ziele nicht erreichten und dass sie gegen den ukrainischen Widerstand machtlos seien. Einige ziehen daraus den Schluss, dass die Russen zu Verzweiflungstaten bereit wären, um aus dieser Situation herauszukommen.

In dem Zusammenhang versucht man Putin als nicht mehr zurechnungsfähig darzustellen.

Ja, unser Bild vom russischen Vorstoss öffnet die Tür für alle Arten von Manipulationen. So sind alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass ein Akteur eine mörderische Aktion durchführt, um Russ­land die Verantwortung dafür zuzuschieben. Man braucht nur «rote Linien» zu definieren, wie es Joe Biden in Polen getan hat, um sehr gefährliche Entwicklungen zu ermöglichen. Dennoch haben die Russen praktisch alle ihre Ziele erreicht. Daher haben sie erklärt, dass sie den Druck auf Kiew nicht erhöhen und sich auf den Südosten des Landes konzentrieren werden.

Was heisst das für den Fortgang des Konflikts?

Ich sehe natürlich nicht in den Kopf von Wladimir Putin, aber ich denke, dass die Koalition nicht weiter nach Westen vorstossen, sondern versuchen wird, ihre Erfolge im russischsprachigen Teil des Landes zu festigen. Russland hat genug erreicht, um die ukrainische Regierung zu Verhandlungen zu drängen. Ich glaube nicht, dass Russland versuchen wird, einen Teil der Ukraine zu besetzen, sondern es wird eine Neutralisierung des Landes erwirken.

«Die Vision Russlands wäre, dass die Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Belarus und die Ukraine neutrale Länder seien»

Damit versucht Putin, den Anschluss ans westliche Bündnis zu verhindern?

Ja, mit einer neutralen Ukraine wird er die Stationierung von Nato-Truppen auf ukrainischem Gebiet verhindern wollen. Im Gegensatz zu den Behauptungen einiger französischsprachiger Medien kennen wir die Pläne Wladimir Putins effektiv nicht. Die verfügbaren Informationen lassen jedoch darauf schliessen, dass die eroberten Gebiete nach der «Demilitarisierung» (d. h. der Vernichtung oder Entwaffnung) der ukrainischen Streitkräfte und der «Entnazifizierung» (d. h. der Vernichtung oder Verurteilung) der paramilitärischen Kräfte zu einer Verhandlungsmasse werden.

Das widerspricht der in unseren Medien dargestellten Version. Das Narrativ des Westens, dass Putin eine imperiale Politik betreibe, die alte Sowjetunion wiederherstellen oder ein neues Zarenreich aufbauen wolle, ist objektiv nicht erkennbar. Sehen Sie das auch so?

Ja, diese westliche Interpretation entspricht keineswegs der russischen Sichtweise. Die Vision Russlands wäre, dass die Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Belarus und die Ukraine neutrale Länder seien. Das bedeutet, frei von jeglichem Einfluss und militärischer Präsenz, weder von der Nato noch von Russland. Ich weiss nicht, ob Russland dies als realistisches Ziel ansieht, aber es ist seine Sicht. Russland hat weder die Absicht, diese Länder zu besetzen, noch hat es etwas dagegen, dass sie über Streitkräfte verfügen. Es sieht jedoch die Mitgliedschaft in einem militärisch-nuklearen Bündnis wie der Nato als Bedrohung für seine Sicherheit an. Wie in der Ukraine zu beobachten ist, besteht sein Ziel nicht darin, das Territorium zu besetzen. In dem Gebiet, das sie derzeit besetzen, geniessen die Russen eine relativ gute Unterstützung durch die russischsprachige Bevölkerung. Im westlichen Teil der Ukraine hätten sie nicht die gleiche Unterstützung.

Ich möchte noch auf einen älteren Konflikt zu sprechen kommen, der häufig im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt genannt wird und ebenfalls als imperiales Gebaren Russlands gedeutet wurde: die Auseinandersetzung um Abchasien und Südossetien. Lässt sich das mit der Ukraine vergleichen?

Die Konflikte in Abchasien und Südossetien weisen Ähnlichkeiten mit dem Konflikt in der Ukraine auf. Das Problem ist, dass es in allen ehemaligen Republiken der UdSSR russische Minderheiten gibt, die nun mit dem Nationalismus der neuen Staaten konfrontiert sind. Diese Staaten sind zu Recht stolz auf ihre Unabhängigkeit, haben aber oft Schwierigkeiten, die Russen zu integrieren, obwohl sie seit Generationen in diesen Ländern ansässig sind. Diese russischen Minderheiten sehen sich oft mit einer Form von Revanchismus konfrontiert.

Wie äussert sich dieser?

Mit der Unabhängigkeit der neuen Staaten der ehemaligen UdSSR wurden die Russen dort zu einer Minderheit. Anders als in anderen neuen Ländern wie z. B. dem Südsudan haben diese Minderheiten jedoch nicht immer die gleichen Rechte wie die «herrschende Ethnie». So haben in Lettland und Estland die Bedingungen, die für den Erwerb der Staatsbürgerschaft auferlegt wurden, dazu geführt, dass viele Russischsprachige zu «Nicht-Staatsbürgern» geworden sind. So verloren diese Menschen, die oft schon seit mehreren Generationen in diesen Ländern lebten, plötzlich ihre sowjetische Staatsbürgerschaft und hatten kein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft der neuen Länder. So haben diese «Nicht-Bürger» natürlich nicht die gleichen Rechte wie die Bürger, und es war die EU, die ihnen einen Pass geben musste.

War das auch in Georgien das Problem?

Ja, in Südossetien und Abchasien hat sich diese Situation zu einem Ultra-Nationalismus auf beiden Seiten entwickelt und verhindert heute eine politische Lösung. Es ist eine explosive Situation.

Das ist nochmals eine ganz andere Dimension, von der natürlich in unseren Medien niemand spricht. Nicht einmal dann, wenn es offensichtlich ist.

Wie bei der Situation in der Ukraine im Jahr 2014 werden diese Tatsachen von unseren Medien nicht berichtet. Dabei haben diese Situationen in Russland eine sehr starke Solidarität für die russischen Minderheiten hervorgerufen. Daraus resultiert ein starker Druck der Bevölkerung auf die russische Regierung, in diesen Ländern zu intervenieren und den Minderheiten zu Hilfe zu kommen. Deshalb haben diese Länder Angst vor einer russischen Intervention. All dies könnte leicht behoben werden, wenn diese Länder eine echte demokratische Kultur hätten und die Minderheiten vollständig in ihre Nation integrieren würden.

Das ist ein Verstoss gegen die Menschenrechte und letztlich gegen die Werte, die die EU immer so hochhält.

Ja, das ist das Unglaubliche daran, dass das in der EU nie thematisiert wurde. Man weiss, dass es diese speziellen Probleme gibt, die zu Spannungen führen können, aber es war keine Bedingung, um der EU beizutreten. Wir haben genau das Problem in sehr vielen Ländern. In Weissrussland sieht es etwas anders aus. Lukaschenko wollte weder mit den Russen noch mit der EU. Er wollte eigenständig sein. Jetzt mit den Sanktionen gegen sein Land ist er natürlich näher an Russland gerückt, obwohl er das nicht unbedingt wollte. Das ist eine Konsequenz der EU-Politik. Die ideologische Sicht in der EU ist so stark, dass man nicht einmal diese menschliche Situation pragmatisch gelöst hat. Im Grunde genommen haben wir genau dieses Problem in der Ukraine.

Hat sich das erst nach dem Umsturz 2014 so scharf entwickelt?

Ja, die Rebellion im Donbas ist mit der Frage der Sprache verbunden. Sie wurde am 23.  Februar 2014 durch die Änderung des Amtssprachengesetzes ausgelöst, durch die der russischen Sprache der Status als Amtssprache entzogen wurde. Im Westen will dies jedoch niemand anerkennen, da man das Bild einer demokratischen Maidan-Revolution aufrechterhalten und so die Rhetorik einer russischen Intervention im Donbas nähren will. Das Problem ist, dass man mit einer falschen Diagnose das Übel nicht wirksam behandeln kann. Ich habe das Gefühl, dass man die Spannungen nicht abbauen, sondern aufrechterhalten wollte.

Noch einmal zurück zu Georgien. Wollte Georgien nicht ebenfalls in die Nato und provozierte deshalb den Krieg gegen Russland in der Hoffnung, die Nato greife dann ein?

Das Ganze spielte sich im Jahre 2008 ab. Georgien war nominiert für den Nato-Beitritt. Die USA stachelten Georgien an, etwas zu tun, damit man sie mit dem Nato-Beitritt belohnen könne. Ich habe nicht den Eindruck, dass die USA ernsthaft einen Beitritt der Ukraine oder Georgiens in die Nato in Erwägung ziehen. Sie haben diese Länder einfach instrumentalisiert. Und das ist das Perverse. Selbst Selenskij hat gesagt, er fühle sich von den USA betrogen, da die USA ihm gesagt hätten – und das war aber nur für die Öffentlichkeit bestimmt – ein Nato-Beitritt für die Ukraine sei möglich. Selenskij sagte tatsächlich: «I requested them personally to say directly that we are going to accept you into Nato in a year or two or five, just say it directly and clearly, or just say no» Zelensky said. «And the response was very clear, you're not going to be a Nato member, but publicly, the doors will remain open,» he said.¹

Also alles nur ein zynisches Spiel?

Ja, man hat das tatsächlich benutzt, um Russland zu provozieren. Man spielte sozusagen damit. Das ist wirklich zynisch. In Georgien hat man es genauso gemacht. Man weiss in der Nato, dass es viel zu kompliziert ist und zu Problemen führen würde, wenn diese Länder in der Nato wären. Man hat es aber bewusst so geführt, dass die Russen meinen bzw. glauben, dass ein Nato-Beitritt auf dem Tisch liege. Vor etwa zwei Wochen sagte der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, die Ukraine als Mitglied der Nato sei nie ein Thema gewesen. Man hat also tatsächlich gespielt, um die Lage zu verschärfen, um einen Zwischenfall zu provozieren und opfert dabei die ukrainische Bevölkerung.

«Die USA trieb hier ein ganz perverses Spiel, um einen Krieg zu schaffen»

Das ist doch schändlich. Mich erinnert es an die Situation vor dem irakischen Angriff auf Kuwait 1990. Damals plante Saddam Hussein aus verschiedenen Gründen, Kuwait anzugreifen und versicherte sich sozusagen bei den USA, dass sie nicht eingreifen würden. Es war eine Falle, denn die USA verhängten sofort Sanktionen und führten anschliessend Krieg gegen den Irak. Sehen Sie da auch gewisse Parallelen?

Ja, das ist sehr ähnlich. Die US-amerikanische Botschafterin, April Glaspie, wurde von Saddam Hussein eine Woche vor der irakischen Offensive in Kuwait eingeladen. Er wollte sondieren, wie die USA bei einem Angriff auf Kuwait reagieren würden. April Glaspie sagte, Abläufe zwischen arabischen Staaten gingen sie nichts an, und sie hätten auch kein Interesse daran. Die USA trieb hier ein ganz perverses Spiel, um einen Krieg zu schaffen.

Ist Russland tatsächlich in so eine plumpe Falle getappt?

Ja, es war eine Falle, aber weil die Amerikaner die Situation falsch eingeschätzt haben, hat Wladimir Putin sie meiner Meinung nach zu seinem Vorteil genutzt. Russland ist ein Risiko eingegangen und muss sein Ziel erreichen, das mit dem gezahlten Preis zusammenhängt: Je höher der Preis, den der Westen ihm abverlangt, desto höher sind seine Forderungen. Allerdings war auch Wladimir Putin klar, dass die Situation ohnehin auf eine Eskalation hinauslief. Mit seiner Offensive hat er den Zeitpunkt und die Bedingungen für diese Eskalation selbst bestimmt. Das war vermutlich das Resultat der Lagebeurteilung. Es war von der Nato und von den USA ein perverses Kalkül dahinter. Die EU-Chefs, Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Ursula von der Leyen an der Spitze, haben das Spiel, das im Hintergrund gespielt wurde, offensichtlich nicht verstanden.

Wenn man die Hintergründe und Zusammenhänge alle zusammenzieht, bekommt man den Eindruck, alles laufe nach einem Drehbuch ab. Das Ziel des Westens hatten Sie bereits im letzten Interview erwähnt. Sehen Sie das immer noch so?

Es gibt zwei Ebenen der Antwort. Die erste ist eine klar artikulierte Strategie, die bereits 2018 und 2019 von der RAND Corporation, einem Think Tank des US-Verteidigungsministeriums, dargelegt wurde. Sie beschreibt genau, wie man Russland auf der internationalen Bühne isolieren kann. Das Szenario, das wir heute sehen, ist dort fast wortwörtlich niedergeschrieben. Die zweite Ebene ist operativer und wird in die erste Ebene integriert. Ich denke immer noch, das Hauptziel war tatsächlich, North Stream II zu stoppen und zu verhindern. Ab diesem Zeitpunkt kam «der Appetit beim Essen». Die Europäer gingen noch einen Schritt weiter und opferten ihre nationalen Interessen. Dies gilt für Deutschland mit Nord Stream II, aber auch für die Schweiz, die ihre Neutralitätspolitik buchstäblich «verkauft» hat. Es gibt eine regelrechte Orgie an Sanktionen. Man hat den Eindruck, es ist nie genug. Es ist so absurd, jetzt wollen sie auch noch China sanktionieren. Es ist eine unglaubliche Dynamik entstanden.

Was hat das für Folgen?

Diese Dynamik führt zu Absurditäten und trägt dazu bei, alle Türen für einen Dialog zu schliessen. Während des gesamten Kalten Krieges haben uns die Russen ununterbrochen mit Erdgas versorgt, trotz Kommunismus, Menschenrechten, psychiatrischen Krankenhäusern und der Invasion Afghanistans. Heute verbietet der Westen behinderten russischen Sportlern die Teilnahme an den Paraolympischen Spielen, schliesst russische Katzen von Zuchtwettbewerben aus, sogar russische Bäume werden von Wettbewerben ausgeschlossen, und man geht sogar so weit, die Verwendung des Buchstabens «Z» mit drei Jahren Gefängnis zu bestrafen! Armer «Z»elensky2! Die Zürich-Versicherung will sogar für eine gewisse Zeit das Z aus ihrem Logo entfernen. Wo führt das noch hin?

«In Wirklichkeit versucht man, Putin zu bekämpfen …»

Wenn man all die Informationen, die Sie wieder zusammengetragen haben, nebeneinanderlegt und dann hört, wie das Ausland die Ukrainer ermutigt, Widerstand zu leisten, weil sie nicht wissen, was gespielt wird, dann ist das wirklich zynisch, und mit den gelieferten Waffen wird noch viel Geld verdient.

Das kommt noch dazu. Es ist klar, dass es wie in jedem Konflikt einigen gelingen wird, mit dem Blut anderer Menschen Geld zu verdienen. Aber auch hier gilt es, die Sache aus der Distanz zu betrachten. Die Waffen, die der Westen an die Ukraine geliefert hat, stammen aus alten Beständen. Sogar einige der von Grossbritannien gelieferten Waffen hatten ihr Haltbarkeitsdatum überschritten. Die von den USA gelieferten Luftabwehrraketen sind veraltete Modelle, für die die Russen sicherlich Gegenmassnahmen haben. Die Javelin-Raketen, über die in der Presse ausführlich berichtet wurde, wurden von den Russen in grossen Mengen gefunden, aber nicht eingesetzt: Sie sind unpraktisch, schwer im Feld einzusetzen und scheinen wenig effektiv zu sein. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass die US-Armee ihre Bestellung für zukünftige Javelin-Raketen sogar reduziert zu haben scheint.

«… und nicht, der Ukraine zu helfen»

Das nützt der Ukraine also nichts? Der Westen treibt die Menschen an, gegen die Russen zu kämpfen mit Waffen, die sie gar nicht gebrauchen können?

Ja, dazu kommt noch, dass die Ukrainer diese Systeme auch nicht richtig bedienen können, weil sie dafür nicht ausgebildet sind.

Das Ganze macht zunehmend fassungslos. Worum geht es eigentlich?

Man hat ein wenig das Gefühl, dass der Westen versucht, den Krieg zu verlängern. In Wirklichkeit versucht man, Putin zu bekämpfen und nicht, der Ukraine zu helfen. Anstatt also einen diplomatischen und politischen Ausweg aus dem Konflikt zu suchen, wird die Bevölkerung zum Kampf gedrängt. Bürger in Kämpfer zu verwandeln klingt romantisch, ist aber kriminell, und es ist nicht die Aufgabe einer internationalen Institution, diese Art von Reaktion zu fördern. Die Kriegsführung muss so weit wie möglich eine Aufgabe des Militärs bleiben. Wenn man Zivilisten Waffen gibt, erhöht man das Risiko, dass der Krieg von Emotionen geleitet wird und zu Greueltaten führt. Dies ist daher eine besonders zynische Entscheidung der Europäischen Union. Man stellt fest, dass keines der Länder, die Selenskij um Mediation gebeten hat, in der Europäischen Union ist: China, die Türkei und Israel.

In dem Zusammenhang möchte ich noch die Rede von Bundesrat Cassis erwähnen, die er während einer Veranstaltung der ukrainischen Botschaft auf dem Bundesplatz in Bern gehalten hat. Meines Erachtens ein totaler Schaden für unser Land. Cassis hat genau das gemacht, was Sie als zynisch kommentiert haben. Er hat Selenskij und die Ukrainer ermutigt, den Kampf gegen das «Böse» zu führen. Wie sehen Sie das?

Das ist absolut blödsinnig. Es ist unverantwortlich, solche Dinge zu sagen. Ich denke, dass die Staaten politische Lösungen fördern sollten. Aber ich meine, es ist bestimmt nicht die Aufgabe der Schweiz, sie zum Kampf zu ermutigen. Die europäischen Länder – und allen voran die Schweiz – sollten versuchen, die Wogen zu glätten, anstatt Öl ins Feuer zu giessen.

Inwiefern, was hätte der Bundesrat tun können?

Unsere Diplomaten und Politiker wussten, dass die Nichteinhaltung der Minsker Vereinbarungen zu einer Katastrophe führen konnte. Sie wussten, dass die Menschen im Donbas seit acht Jahren wiederholt Angriffen ausgesetzt sind. Sie wussten, dass sich die Ukraine auf eine Offensive gegen den Donbas vorbereitete. Sie wussten all dies, unternahmen aber absolut nichts. Das ist schlichtweg kriminell. Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit die Ehre gegeben, bei der Suche nach friedlichen Lösungen für Konflikte zu helfen. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Heute ist der Grossteil der ukrainischen Armee eingekesselt, und Russland hat seine Ziele praktisch erreicht. Einzelne Personen dazu zu bringen, in den Kampf zu ziehen, wird keine Lösung bringen: Kämpfen gegen Putin bis zum letzten Ukrainer?

Was hat es für Folgen, wenn man unkontrolliert Waffen verteilt?

Als ich bei der Uno für die Doktrin der friedenserhaltenden Massnahmen zuständig war, war eines meiner Dossiers der Schutz der Zivilbevölkerung. Mit meinem Team haben wir die Faktoren untersucht, die zur Verwundbarkeit der Zivilbevölkerung beitragen. Nachdem wir zahlreiche Konflikte untersucht und Zeugen befragt hatten, kamen wir zum Schluss, dass einer der Hauptfaktoren die Kombination von weit verbreiteten Waffen und dem Fehlen von Führungsstrukturen ist. In dieser Situation kämpfen die Menschen nicht mehr nach einem Plan, sondern nach ihren Emotionen. Das führt dazu, dass Greueltaten begangen werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Zum Beispiel lieferte Frankreich in Libyen trotz des Embargos der Uno an bestimmte Stämme Waffen. In den französischen Medien wurden Schwarze als «hochbezahlte» Söldner Gaddafis bezeichnet. Das Resultat war, dass das Dorf Tawarga mit französischen Waffen massakriert wurde, weil seine Bewohner Schwarze waren, die keine Söldner, sondern Gastarbeiter waren. Wenn man die Menschen mit Waffen versorgt und auf die Menschheit loslässt, führt das zu Massakern. In Mariupol haben wir diese Beispiele. Die dort kämpfenden Milizen üben Rache. Sie haben einen russischen Kriegsgefangenen an ein Kreuz gefesselt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Das sind die gleichen Methoden, die der Islamische Staat vor sechs Jahren praktiziert hat. Wenn man unkontrolliert Waffen verteilt, können sie auch in falsche Hände geraten, z. B. von kriminellen Banden, wie man es in Kiew und Kherson beobachten kann. Zudem kann es auch unerwartete Folgen haben. So wurde am 31. März ein ukrainischer Helikopter, der nach Mariupol kam, um Befehlshaber des Asov-Regiments zu evakuieren, mit einer Stinger-Missile abgeschossen, die von den Amerikanern geliefert worden war…

Sie haben vorhin erwähnt, dass wir in unseren Medien keine objektiven Informationen bekommen. Man spricht von einer grossen Zahl gefallener Russen. Ist das möglich?

Die vom russischen Verteidigungsministerium angegebene offizielle Zahl der russischen Verluste liegt bei etwa 1 400 Toten. Unsere Medien sprechen jedoch von 7 000 und sogar 14 000 Toten. Tatsächlich berichten unsere Medien die von den Ukrainern angegebenen Zahlen und sagen, dass die russischen Zahlen Desinformationen seien. In Wirklichkeit wissen wir nicht, wie hoch die genaue Zahl ist, aber wir wissen, dass Länder in der Regel bei ihren eigenen Toten genau sind und dazu neigen, die Zahl der feindlichen Toten zu erhöhen. Es handelt sich also eindeutig um Propaganda, die unsere Medien betreiben.

«Putin könnte die Ukraine zerstören, aber er hält sich zurück»

Nehmen wir einmal an, die Zahlen stimmen. Gäbe es eine Erklärung dafür?

Grundsätzlich führen die Russen einen ganz anderen Krieg als die USA. Die USA bombardieren zunächst mit der Luftwaffe und legen alles in Schutt und Asche, so dass die Bodentruppen nicht mehr gross kämpfen müssen. Die russische Strategie ist genau das Gegenteil. Die Russen, und das wurde vom Pentagon bestätigt, setzen ihre Luftwaffe in diesem Krieg kaum ein. Es gibt in Newsweek vom 23. März einen Artikel von William Arkim mit dem Titel: «Putin könnte die Ukraine zerstören, aber er hält sich zurück.» Einem US-Geheimdienstexperten zufolge entspricht die Behauptung, die Russen würden versuchen, durch wahllose Bombenangriffe alles in der Ukraine zu zerstören, nicht den Tatsachen. Die Russen seien ganz gezielt vorgegangen und hätten die Anzahl toter Zivilisten stark minimiert.³ Dafür müssen die Soldaten im Feld kämpfen, mehr als die amerikanischen. Das erklärt die höheren Verluste.

Das steht diametral entgegen der Berichterstattung unserer Medien.

Das Verhalten der Russen ist auch verständlich. Sie kämpfen inmitten einer russischsprachigen Bevölkerung, die ihnen nicht feindlich gesinnt ist, auch wenn sie vielleicht gegen die militärische Intervention ist. Die russische Armee versucht daher, die Verluste unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten. Anders verhält es sich mit den paramilitärischen Milizen in Mariupol. Sie haben keinerlei Verbindung zu der Bevölkerung, die sie eigentlich verteidigen sollten. Sie haben über die Strategie der USA gesprochen, die dadurch im Irakkrieg 2003 verhältnismässig wenige Verluste an eigenen Soldaten hatten. Hängt das nicht auch damit zusammen, dass viele Soldaten aus anderen Staaten dort gekämpft hatten, die in keiner US-Statistik erschienen? War es nicht so, dass sehr viele ukrainische Soldaten beim Krieg der USA 2003 gegen den Irak im Einsatz waren?

Die osteuropäischen Länder waren die ersten, die sich der US-Koalition im Irak anschlossen. Dies hatte Donald Rumsfeld als «neues Europa» bezeichnet, im Gegensatz zum «alten Europa», zu dem auch Frankreich und Deutschland gehörten, die sich gegen den Irakkrieg ausgesprochen hatten. Die ehemaligen Ostblockländer schickten ihre Soldaten und bekamen dafür finanzielle Unterstützung von den USA für ihr Militär, sogar Flugzeuge erwarben sie. Das war der Grund, warum diese Länder in der Koalition der Willigen mitmachten, denn anfänglich wollte sich niemand an dem Krieg beteiligen. So konnten die Oststaaten ihre Armeen verbessern, ohne das Militärbudget zu erhöhen.

«In der Ukraine gab es zwischen 20 und 30 Biolabors»

Ein Thema, das in unseren Medien so gut wie keinen Niederschlag gefunden hat, sind die Biolabors, die sich auf ukrainischem Boden befinden. Wissen Sie etwas dazu?

Die USA haben rund um die Welt etwa 300 Biolabors. Das sind Labors, die vom Verteidigungsministerium finanziert werden. Sie arbeiten mit zivilen Unternehmen zusammen, allerdings an Projekten, die weitgehend vom Verteidigungsministerium finanziert werden. In der Ukraine gab es zwischen 20 und 30 Biolabors. Es ist nicht klar, was sie genau taten, aber ihre Existenz war bekannt und wurde bereits vor einigen Jahren in Europa aufgedeckt. Dazu muss man auch sagen, dass es nicht unbedingt geheim war, aber man behandelte sie sehr diskret.

Dann werden diese von den europäischen Staaten geduldet?

Mit dem russischen Angriff ist das auf einmal ein Thema geworden, denn es würde ziemlich heikel, z. B. wenn eine Bombe ein Labor treffen würde. Das birgt natürlich die Gefahr, dass pathogene Agenzien freigesetzt werden. Die USA bekamen Angst, denn am Anfang des russischen Angriffs wurde diese Gefahr erwähnt, aber niemand reagierte. Die USA sprachen von russischer Desinformation, bis Victoria Nuland vor die Kommission des amerikanischen Senats geladen und befragt wurde. Der extrem antirussische republikanische Senator Marco Rubio fragte, ob die USA Biowaffen in der Ukraine gelagert hätten. Victoria Nuland antwortete sehr zögerlich und ihre Worte waren wohl überlegt, das war am Fernsehen deutlich zu sehen. Sie bestätigte, dass die USA Biolabors in der Ukraine hätten und dass es darin Produkte gebe, die nicht in die Hände der Russen fallen dürften.

Was kann man aus dieser Aussage für Schlüsse ziehen?

Es gibt von den USA bestätigte Biolabors in der Ukraine und in diesen Labors wird mit gefährlichen Substanzen experimentiert. Ob es sich dabei um biologische Waffen handelt, bleibt eine offene Frage. Es scheint, dass einige Dokumente, die an die Öffentlichkeit dringen, darauf hinweisen, dass dort Forschung zu militärischen Zwecken betrieben wird. Aber man muss vorsichtig bleiben. Diese Forschung kann allemal gefährlich sein, auch ohne dass es sich dabei um Biowaffen handelt. Manche Politiker haben sich natürlich gefragt, warum man diese Forschung in der Ukraine betreibt. Die Ukraine ist nicht bekannt für besondere Kapazitäten und Kompetenzen auf dem Gebiet der biologischen Forschung. Warum sind diese Labore nicht in den USA mit sicheren Anlagen? Die Antwort ist nicht klar.

Warum nicht?

Es gibt eine Aussage von Robert Pope. Er ist Forschungsdirektor von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency). Diese Behörde ist vergleichbar mit der Arma-Suisse⁴. DARPA gehört zum US-Verteidigungsministerium, die in verschiedenen Bereichen wie Weltraum, Cyber, Elektronik etc. Forschung für die Verteidigung betreibt. Dieser Robert Pope hat gesagt, dass in diesen Labors keine Biowaffen produziert werden. Und dann wählte er eine seltsame Formulierung. Die Wissenschaftler, die dort beschäftigt seien, hätten sicher noch «alte Restanzen aus der Zeit des Kalten Kriegs in den Labors».

Was heisst das jetzt?

Wenn man ihm glauben würde, dann würde es bedeuten, das dort nicht unbedingt an Biowaffen geforscht wird. Aber sie haben sicher mit sehr gefährlichen Substanzen gearbeitet, und es kann sein, dass es einige, vielleicht alte Biowaffen dort gibt. Das ist der Stand der Dinge.

Ist das alles?

Im Video über die Anhörung von Victoria Nuland auf YouTube, stellt der Senator Rubio am Schluss eine sehr seltsame Frage: «Wenn es einen biologischen oder chemischen Zwischenfall gäbe in der Ukraine, hätten Sie dann den geringsten Zweifel, dass die Russen zu 100 Prozent dafür verantwortlich wären?» Das ist für mich ein Aspekt, der mich äusserst besorgt. Das heisst nicht, dass die USA so etwas vorbereiten und dann den Russen anlasten würden, aber es ist nicht ausgeschlossen. Die Frage von Senator Rubio kam aus heiterem Himmel. Es ging thematisch gar nicht darum. Deshalb bin ich sehr besorgt darüber, dass es möglicherweise Ideen gibt, etwas inszenieren zu wollen, um dann eine Berechtigung zu haben, aktiv in den Krieg einzugreifen. Das könnte äusserst gefährlich werden …

Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser


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Ich nehme an, jede/r hat inzwischen vernommen, dass Frau Baerbock in Prag verkündet hat, sie würde die ukrainische Regierung so lange wie nötig mit Waffen versorgen, egal, was "ihre" Wähler*innen dazu

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